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21. Jahrhundert -> 08.12.2022 Warntag

08.12.2022 Warntag

Der Warntag hat mich richtig kalt erwischt. Normalerweise steht mein Handy auf „stumm“, weil ich es zum Telefonieren, Emaillionieren, Whatsapponieren und Fotografieren benutze, aber nicht, um angerufen zu werden. Um elf Uhr am Donnerstag habe ich eine Besuchergruppe aus Cochem durch St. Wendel für ne Führung um den Dom und in den Dom dabei und war gerade damit beschäftigte, die Attacke des Ketzers Franz von Sickingen auf St. Wendel zu beschreiben - die Mauer stand noch, war aber gerade fast am Umfallen - , als das Handy in meiner Hosentasche anfing zu „gärcksen“ (ja, ich weiß, das ist Mundart, aber wie soll ich den Ton sonst beschreiben? „Quaken“ vielleicht, jaaa, „quaken“ geht auch). Das verwunderte mich, weil ich das Ding vor Beginn einer Führung immer ausschalte. Der Ton brachte mich direkt auf die Palme, weil ich ihn als weiteren Störenfried definierte. Da war zunächst der Geräuschpegel des Passantenstroms um uns herum, weil um elf der Weihnachtsmarkt öffnet. Dann waren da noch drei meiner Schützlinge, die lieber im Eiltempo um den Dom gerannt wären statt stehenzubleiben und sich Geschichten anzuhören und die jetzt lieber zusammenstanden, um über Müllersch Bebb und ihre neue Frisur zu tratschen (vielleicht auf über ihre Hühneraugen, keine Ahnung, es war jedenfalls viel wichtiger und interessanter als alles, was ich über Sickingen daherlog). Und zum dann war da noch irgendein nicht definierbarer Sänger, der sich bemühte, aus dem Lautsprecher ein Lied herauszuquälen, das ansatzweise mit Weihnachten zu tun hat (nun, es hatte mehr damit zu tun als die Bond-Melodie, zu der sich die Feuerspringer am Abend zuvor unten in der Mott vergnügten). Gegen die Kakaphonie von Passanten, „Musik“ und Nichtzuhörern war ich gewappnet, gegen die Warn-Äpp nicht. Ich fummelte mein Telefon aus der Hosentasche, und prompt tat die Hälfte meiner Zuhörer das auch (laut Statistik heute morgen in der SZ waren das bei mir 7,5 Personen: das ist die Hälfte von 15 Stück Leuten (die drei „Müllersch Bebb“-Spezialisten eingerechnet), weil wohl die Hälfte aller potentiellen Empfänger die Warnung empfing, also 15 geteilt durch 2 = 7,5). Gemeinsam suchten wir alle einen Weg, zumindest ein Übel aus der Welt zu schaffen, was dadurch möglich war, daß das quakende Handy wichtiger war als Müllersch Bebb. Der Passanten Hälfte (und nicht nur deren jeweils bessere) war auch stehengeblieben. Jeder - ich auch -drückte wie wild auf seinem Teflon herum, aber das Quaken war hartnäckig. Und um dem Chaos noch eins drauf zu setzen, bliesen irgendwo weiter südlich die Sirenen ihr Gejaule in die Luft. Und natürlich kamen auch noch die Glocken vom Dom hinzu, nee, Moment, die gehörten da hin, es war ja 11 Uhr. Schließlich kamen ich auf den Schlouda (Platt für „Idee“), das blöde Handy runterzufahren, was dem Quaken die Luft bzw. den Strom nahm. Ich gab das weiter, und alle fuhren das Ding runter. Der Herr im Lautsprecher hatte mittlerweile einer Dame Platz gemacht, die viel süßlicher, aber auch erheblich leiser sang. Die drei Damen hatten sich wieder Müllersch Bebb zugewandt und ich leicht den Faden verloren. Ich konnte ihn aber wieder aufnehmen, ließ von Sickingen die Stadt plündern und die Kanonenkugel in der Dommauer versenken, d.h. befestigen. Oder so.
Ein Warntag ist immer schön, wenn man weiß, daß es nur ein Warntag ist. Fürs nächste Mal hab ich mir vorgenommen, gleich das Handy auszuschalten und dann gespannt zu sein, ob es trotzdem brummt. Dann kann ich beruhigt sein, daß mich der Staat im Auge hat und mich immer erreichen kann, wie er will - auch wenn ich nicht will. Dann werden wir uns vorher einen fröhlichen Warntag wünschen, und alle Leute sind glücklich. So wie der gute alte Dschortsch 1948, als er „1984“ schrieb.
Kuhl.

Roland Geiger, St. Wendel.

Historische Forschungen · Roland Geiger · Alsfassener Straße 17 · 66606 St. Wendel · Telefon: 0 68 51 / 31 66
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