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Brühlstraße 9

 

Der zweitjüngste Sohn von Peter Becker senior, der Tuchweber Wendel Becker, heiratete 1813 Susanna Marck aus Alsfassen und baute im Laufe der Jahre zwei große Häuser, aus denen heute drei geworden sind; Brühlstraße 9, 11 und 13. Beide Häuser lagen auf einer großen Grundstücksparzelle, die in Flur 6 lag und die Nummer 28 trug.

 

Wendel Becker starb im Jahre 1831. Bevor seine Witwe Susanna 1853 nach Amerika auswanderte, verkaufte sie das Anwesen, beide Häuser mit inbegriffen, an den Bierbrauer Nikolaus Philipp Jakob Keller (1825-1859) aus St. Wendel.

 

Keller heiratete im Januar 1854 die 25-jährige Helene Demuth aus St. Wendel (eine Cousine 3. Grades von Helene "Lenchen" Demuth, der Haushälterin von Karl Marx). Im Ehevertrag vom 11. Januar 1854 wurde Gütergemeinschaft vereinbart, und er schenkte ihr die eine Hälfte seines Wohnhauses in der Brühlstraße mit allem Zubehör. Fünf Jahre später war er tot.

 

Als seine Witwe zwölf Jahr später - am 20. Februar 1867 - den Wirt und Schlosser (was für eine Kombination!) Friedrich Adolf Schwärtzel aus Pallien nahe Trier heiratete, brachte sie das dreiviertel des Hauses mit in die Ehe (das andere Viertel ging an Michel Karl Keller, ihr einziges überlebendes Kind aus erster Ehe).

 

Unmittelbar im Anschluß an ihren Tod im April 1869 kam es zu einem Rechtstreit zwischen dem St. Wendeler Notar Johann Keller, der als Hauptvormund des minderjährigen Michel Karl Keller fungierte, und dem Witwer Friedrich Adolf Schwärtzel, der seine eigenen Rechte und die seines ebenfalls minderjährigen Sohnes Friedrich Adolf (aus der Ehe mit Helena Demuth) wahrnahm. Alle drei hatten Rechtsanteile an diesem Anwesen. Um allen dreien gerecht zu werden, einigte man sich darauf, die gesamte Parzelle 28 versteigern zu lassen. Dazu wurde die Parzelle in drei Teile aufgeteilt. Da war zunächst ein kleinerer Teil (Abteilung A genannt), der in etwa dem heutigen Anwesen Brühlstraße 13 entsprach, und von der Wilhelmstraße (damals noch ohne offizielle Bezeichnung und - da sie ganz neu war - die Neue Straße genannt), der Brühlstraße, dem restlichen Anwesen nach rechts und dem Garten dahinter begrenzt. Er wurde bei der Versteigerung am 6. Juli 1870 für 1960 Thaler dem Josef Linxweiler aus St. Wendel zugeschlagen, der für seinen Schwiegervater Wendel Weisgerber ins Rennen getreten war. Im Anschluß wurde das restliche Anwesen rechts von diesem ersten Teil entlang der Straße versteigert (Abteilung B)und dann der Garten als eigene Position. Abteilung B ging für 1280 Thaler an den Schlosser Nikolaus Josten aus St. Wendel.

 

Wer jetzt meint, die Versteigerung sei damit gelaufen, der täuscht sich gewaltig. Es scheint, als seien diese beiden ersten Versteigerungen nur eine gute Gelegenheit gewesen, den wahren Verhandlungswert der Teile festzustellen. Das Versteigerungsverfahren sah für den Fall einer Versteigerung, die nicht unter Zwang erfolgte, vor, daß die versteigernde Partei am Ende des Verfahrens nach einer angemessenen Bedenkzeit die Versteigerung und damit den Preis annimmt. Diese Einstimmung wurde nicht gegeben. Statt dessen setzte man die Versteigerung erneut an, diesmal standen beide Teile zusammen auf dem Tapet und als Mindestwert wurden 3.200 Thaler angesetzt. Nach dem offensichtlich letzten Zuschlag war es Rechtsgebrauch, daß man etwa drei Minuten abwartete, bis akzeptiert wurde, daß wirklich niemand mehr bieten würde. Diese drei Minuten wurden durch das Abbrennen von drei Kerzen ermittelt, von denen jede mindestens eine Minute brannte. Danach ging das Anwesen für 3900 Thaler an - Friedrich Schwärztel selber, der jetzt "endlich" Herr im Haus war. Den Garten, der als Abteilung C angesetzt worden war, erhielt er für schlappe 160 Thaler quasi als Draufgabe. Heute steht dort ein Neubau von 1979, in dessen Erdgeschoß auf der linken Seite Christoph Schröer Heilsteine anbietet und auf der rechten Seite der Schuhmacher Karl Wirth seinem Gewerbe nachgeht.

 

Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich die Versteigerungsriten der damaligen Zeit nicht so ganz. Am 15. September 1871, also ein gutes Jahr nach der Versteigerung, wurde beim Notar Euler in St. Wendel eine sog. " Schlußliquidation" durchgeführt, bei der alle ersteigerten Beträge an die jeweiligen Anspruchsteller, in diesem Fall die beiden minderjährigen Kinder von Helena Demuth aus beiden Ehen, verteilt wurden. Darin wird die endgültige Versteigerung des Anwesens aber nicht auf den 6. Juli 1870, sondern auf den 1. März 1871 verlegt. Ich kann es mir nur so erklären, daß in der Zeit nach dem 6. Juli 1870 die Versteigerung für ungültig erklärt wurde, was aber keinen Eingang in die Notariatsakten fand, auf jeden Falll nicht mehr nachvollziehbar ist. Denn unglücklicherweise können wir diese Versteigerung nicht nachschauen, weil ausgerechnet diese Akten nicht mehr vorhanden sind (in der ersten Hälfte des Jahrgangs 1870 fehlen über 150 Akten, die den Zeitraum Februar und März abdecken). In der Versteigerung vom 1. März 1871 ging das Anwesen ebenfalls komplett an Friedrich Schwärtzel, so daß sich am Ausgang des Verfahrens nichts änderte; auch der Preis blieb derselbe, nämlich 4.060 Thaler für beide Hausteile und den Garten.

 

Die Trennung in Brühltraße 9, 11 und 13 vollzog sich erst gut zwanzig Jahre später. Friedrich Schwärtzel hatte am 19. Oktober 1871 erneut geheiratet, was auch der Grund für die Versteigerung gewesen sein mag (eben um späteren Verwicklungen mit ggf. Kindern aus dieser neuen Ehe zu vermeiden). Katharina Emilia Wassenich stammte aus St. Wendel und schenkte ihm vier weitere Kinder, von denen drei das Erwachsenenalter erreichten. Am 23. April 1891 verkauften sie den Gebäudeteil längs der Wilhelmstraße und mit Front zur Brühlstraße, der jetzt die Parzellennummer 828/28 an den Kaufmann Jakob Trost und seine Ehefrau Catharina Fremgen (Brühlstraße 13). Ungefähr zur gleichen Zeit - aber ebenfalls über einen Notariatsakt nicht erfassbar (das heißt, es gab ganz sicher einen, aber ich hab ihn nicht gefunden; die Trennung erfuhr ich aus einer Unterlage im hiesigen Katasteramt) - wurde Brühlstraße 9 (Parzellennummer 833/28) an den jüdischen Kaufmann Jakob Sender und seine Ehefrau Karoline Sender, beide aus Sötern, verkauft. Brühlstraße 11 ging zwei Jahre später an Jakob Wieser. Doch bleiben wir zunächst bei Brühlstraße 9.

 

Die beiden Metzgereien, die es in der Brühlstraße gab, waren jüdischen Ursprungs. Ihre Betreiber waren "Schechter". Das Wort kommt aus dem hebräischen "Schohet", was in der Übersetzung "Schlachter" heißt. Das Schechten ist eine kultische Handlung und wird in kleinen Gemeinden zusätzlich vom Lehrer, Rabbi, Vorsänger oder einer anderen geachteten Person der Kultusgemeinde verrichtet. Schechten kann nur, wer die religiöse Ausbildung und das entsprechende Werkzeug zum koscheren Schlachten hat. Beim Schlachten eines Tieres auf koschere Art stellt sich der Schechter rittlings über das Tier (z.B. eine Ziege, natürlich keinesfalls ein Schwein), ergreift mit der linken den Kopf und zieht ihn nach oben. In der linken hält er ein langes Messer, mit dem er ihm mit einem sauberen Schnitt die Kehle durchschneidet. Dann wird das Tier so aufgehängt, daß es ausblutet. Der Grund für diese Handlungsweise ist, daß die Juden das Blut der Tiere nicht essen. Sie führen dies auf ein Wort aus dem alten Testament zurück, das sagt: "Das Blut ist die Seele, und du sollst es nicht essen"

 

Jakob Sender starb am 18. November 1892 und wurde auf dem jüdischen Friedhof oberhalb von Urweiler begraben. Sein Sohn Siegmund Sender führte zusammen mit seiner Ehefrau Maria Anna Schömann die Metzgerei weiter; wir finden ihn im Jahre 1900 in den Steuerlisten als Eigentümer. Als Dienstmagd beschäftigte er Katherina Maldener aus Oberthal. Aus dem Haus eines Tuchwebers, später eines Bierbrauers und eines Kaufmanns ist eine Metzgerei geworden. Sender übergab sein Geschäft noch vor 1908 - möglicherweise krankheitshalber, denn er starb bereits 1921 im Alter von 54 Jahren - an den Metzgermeister Jakob Kahn aus Bildstock, Ehemann von Sophia Stern, der die Metzgerei weiterführte und ab Oktober 1925 noch den Handel mit Vieh hinzunahm. Im August 1932 verkaufte er das Haus an Eugen Dalaker aus Oberroth (in erster Ehe mit Martha Eisenbeiss, in zweiter Ehe mit Erna Müller verheiratet). Der führte seine "Rind-, Kalb- und Schweinemetzgerei" bis 1956 und übergab an den Metzger Oswald Keller. Dessen Schwiegertochter Renate führt heute das Geschäft.

 

Im Nachhinein überlege ich mir, ob Siegmund Sender 1921 an einer Krankheit starb oder aus Kummer. Sein Sohn Jakob fiel am 28. September 1915 in Frankreich; er war Sanitätsgefreiter in einer Maschinengewehr-Kompanie. Können Sie sich das vorstellen, mitten im Gefecht unbewaffnet geradehinein ins Feuer zu laufen, um jemanden, der vorne verwundet liegt, Hilfe zu leisten und jeden Moment damit rechnen zu müssen, daß sie von einer oder vielen Kugeln getroffen werden, auf eine Mine treten oder von einer Granate zerfetzt werden? Ein Denkmal wurde ihm nicht gesetzt, ihm nicht und keinem der vier anderen Gefallenen jüdischen Glaubens in St. Wendel.

 

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