Dem Herrn Professor Steininger Wohlgeboren
am Gymnasium in Trier
Essen am 15. April 1829.
Lieber Bruder!
Beikommend erhälst du einige Programme von vorigen
Jahre. du wolltest es nicht als ein Vergessen, oder als
eine gewisse Nachläßigkeit von meiner Seite ansehen, daß
ich sie dir erst jetzt schicke. Das Programm-Schreiben ist
für uns eine wahre Last. Müde von Präparation und
Korrektur sehnen wir uns am Ende noch gezwungen
zu dergleichen Arbeiten die Feder zu ergreifen. Wir
sind daher zufrieden, wenn sie ganz unbeachtet ge-
lassen, oder wenigstens nur als das angesehen werden,
was sie sind, als Produkte des Zwangs. Inzwischen
scheint es nicht allenthalten so zu sein. Ist es doch
Mode geworden, Programme zu repertiren. Die Furcht,
ein gleiches Schicksal möchte das unserige treffen,
veranlaßt mich darum noch nachträglich zu thun,
was ich sonst zu thun mich so halb und halb würde
geschämt haben. Wenn H. Castello und H. Hein
vielleicht Interesse daran finden sollten, es einmal
zu lesen, so bitte ich dich, nebst meinem ergebensten
Gruße jedem eines übermachen zu wollen.
(Seite)
Der vergangene Winter war für unser Gymnasium
ziemlich merkwürdig. Ich weiß nicht, ob du dich noch
eines gewissen Guillaume erinnerst, der an die Stelle
des früher hier gewesenen Kapuziners gekommen ist.
Nicht ohne Anlagen aber ohne alle geistige Ausbildung,
von glattem geschmeidigen äusserem Benehmen, aber
ohne allen Charakter und alle Mannhaftigkeit, in
gleichem Grade bigott, scheinheilig, und lüderlich und
gemein konnte er als der Repräsentant aller
Münsterländer gelten. Pflichtvergessen wie nur einer
sein konnte, leistete er nichts und verdarb uns
alle unteren Klassen. Selbst betrunken wurde er oft
in den Stunden gesehen. Dieser Mensch, nachdem das
Maas seiner Sünden voll war, nachdem er Schandthaten
und Gemeinheiten aller Art begangen, machte sich
mit nicht weniger als 1500 Thlr Schulden - bei Nacht
und Nebel davon. Er soll nun in London sein.
Wenn du die Direktion unseres Gymnasiums aus meinen
hin und wieder gemachten Aeußerungen noch nicht känntest,
so würdest du in diesen Streichen wenigstens zum Theil
einen Maasstab für deren Beurtheilung haben. Indessen
unser Direktor sollte noch das Gegenstück zu dem
Auftritte von Guilleaume liefern. Ich habe dir wohl
mitunter geschrieben, wie er uns durch sein Herum-
laufen in den Klassen und in den Gängen vor Anfang
der Stunden, und durch seine Jnkonsequenz im Handeln
(Seite)
und überhaupt durch sein wenig Gescheit oft anstößig
und beleidigend gewesen ist; wie er bald den Pro-
testanten, bald den Katholiken oder den Juden von
und zurückgesetzt hielt und uns dadurch unsäglichen
Verdruß verursachte; wie er namentlich mich
öfter mit der Bibel oder mit den Stunden der Andacht
besuchte, und mich küßte und drückte, und mir
vorschwatzte, und ich denn Stunden lang zugehört,
ohne zu wissen, ob er mich zum Freunde oder zum
Christen in seinem Sinne hatte machen wollen.
Hatte er schon in den ersten Jahren durch dergleichen
sich so gezeigt, daß man nicht wußte was von ihm halte,
so nahm dieses in der letzten Zeit noch immer zu.
Ich fing an, ihm überall aus dem Wege zu gehen;
aber in eben dem Grade, als ich ihn meide, verfolgt
er mich mit seinem Groll wie mit seiner Liebe.
Um alle Berührungspunkte mit ihm abzuschneiden,
bitte ich ihn mir nichts als Mathematik und Physik
durch das ganze Gymnasium zu lassen, mir selbst
das Ordinarium abzunehmen; es geschieht, aber
er verfolgt mich immer mehr mit Unannehmlichkeiten
und mit Liebkosungen. Wie ich denn endlich stehe
daß gar kein Auskommen mit ihm, sage ich ihm in
der Konferenz von Kopf bis Fuß die Wahrheit,
zähle ihm alle dummen Streiche auf, die er gemacht,
halte ihm seine Jnsagungen vor und erkläre ihm
(Seite)
daß ich nicht mehr so leben wolle wofern er nicht
schriftlich mir meine Verhaltungsregeln angäbe
daß ich mir dieselben sonst von der Behörde erbitten
müßte. Er bat um Verzeihung und ersuchte mich,
die Verhältnisse zwischen Direktor und Lehrern schriftlich
zu entwerfen und sie der Konferenz zur Bestätitung
vorzulegen. Von Tag zu Tag war er wieder anders; er
bittet wieder um Verzeihung, und verspricht mir Besserung
wenn ich ihn lieben wollen wolle; ich zweifle nicht mehr
an seinem wahren Zustande, habe Mittleid mit ihm
und kaufe mir zu seiner Beruhigung Luthers Bibel
und er - entweicht in aller Frühe im Schlafrock und
in Pantoffeln nach dem 4 Stunden entlegenen Duisburg
und predigt auf den Gasse von dem tausendjährigen
Reiche.
Der eine also entläuft aus Lüderlichkeit, der andere
wird ein Narr und läuft davon. Das ist der Zustand
unseres Gymnasiums! Welchen Eindruck dies alles
gemacht, und von welchen Folgen es für unser Gym-
nasium gewesen ist und noch ist, läßt sich leicht
deuten. Der Direktor wurde eingefangen, seine
Narrheit nahm immer zu, artete zuweilen in
Raserei aus, und er sitzt nun - im Siegburg.
Die Behörde hat ein Jahr Frist festgesetzt, während
welcher sie seine Wiederherstellung abwarten und hier
(Seite)
alles in status quo lassen will; aber es dürfte
sich doch fragen, ob er auch noch gänzlicher Wiederherstellung
nochmals herkommen könnte, und höchst wahr-
scheinlich wurden wir übers Jahre einen anderen Direktor
erhaltne. Dieser Veränderung sehe ich nicht ungerne
entgegen, und ich wünschte sehr einen Bekannten
vom Rhein hier zum Vorgesetzten zu bekommen.
Sollte nicht H. Schwendler darauf resppiriren wollen?
Mir däucht, es dürfte gelingen, da der neue Direktor
katholisch sein muß, und da man sehr gerne einen
Geistlichen sehen würde. Ueberdies ist in den Rhein-
landen Mangel an künftigen Subjekten, und am
ganz junge wird eine solche Stelle nicht vergeben.
Vorläufig führt hier die Geschäfte der älteste
Lehrer, Hr. Wilberg.
Daß wir durch diese Veränderung nur an Arbeit
gewonnen haben, folgt von selbst; wir schlagen uns
mit einigen Kandidaten herum und jeder der
Lehrer hat noch Stunden zubekommen. Jndessen
bin ich doch sehr vergnügt, da aller bisherige Ver-
druß verschwunden ist und da ich keinen Korrektor
mehr habe. Ich lebe und webe jetzt nur in Mathematik
und Physik.